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was sie suchten, und diese Richtung hat den Dichtern der Sturmund Drangperiode leidenschaftliche Nahrung gegeben.1)

Unter diesen Dichtern mag zunächst Reinhold Lenz genannt werden. Er hatte in dem Strassburger Kreise, in welchem Shakespeare ein Glaubensartikel war, dem auch der jugendliche Goethe angehörte, durch seine Liebe zu Shakespeare eine grosse Bedeutung. Er bewies diese Liebe durch Vorträge, welche er in einer literarischen Gesellschaft hielt; er sprach über Coriolan und über „die Veränderung des Theaters bei Shakespeare". In seinen Dichtungen hat Lenz dieser Liebe zu Shakespeare oft schönen Ausdruck gegeben. In dem dichterischen Nachrufe, welchen er der früh verschiedenen Gattin Schlosser's, der Schwester Goethe's, widmete, hebt er die Stimmung hervor, in welcher die treffliche Frau ,,mit Shakespeare, der ihren Geist umfing, zitternd oft vor Furcht und Freude, in die Mysterien des hohen Schicksals ging." 2)

Shakespeare's Geiste unterwirft er sich mit Demuth und Verzagen, er bittet in dem Gedichte ,,Ueber die deutsche Dichtkunst" seinen Genius:,,Schütze mein einsames Grab, dass kein Blick aus dem Reiche der Seligen von Shakespeare's brennendem Auge oder dem düster leuchtenden Auge Ossian's oder dem rothblickenden Auge Homer's sich auf dasselbe verirre, damit sich meine Asche im Grabe nicht empöre vor Scham, dass ich auch einst wagte zu dichten.") Er hatte in demselben Gedicht ein ähnliches Geständniss in einem Bilde ausgesprochen, welches mit Recht O. F. Gruppe auf Shakespeare bezogen hat): „er fühlte," sagt er, auf einem Sandkorn seine Wurzel steh'n, als er auf benachbarten Beeten fremde Blumen himmlischer Zier, mit englischem Ausdruck verbunden erblickte, Wunder den Augen, der Nase, den Sinnen, süsses Wunder, selbst dem stolzen kalten Verstande." In einem monologischen Gedichte lässt er Shakespeare auftreten, welcher in einem Theater in London die Geisterscene im Hamlet dargestellt und realisirt sieht, ,,was er in unvergesslichen Stunden durchgezittert, durchempfunden, in seiner Seele aufgeführt hat." ") In der dramatischen Skizze „Pandaemonium germanicum" lässt Lenz auch Shakespeare auftreten; einen Arm um Herder geschlungen erscheint er, Klopstock umarmend

1) Vergl. Ulrici, Shakespeare's dramatische Kunst, Leipzig 1869, 3, p. 158. Adolf Stahr, Shakespeare in Deutschland (Prutz, Literarhistorisches Taschenbuch, Leipzig 1843). 2) R. Lenz, Gesammelte Schriften, herausg. von L. Tieck 3, p. 252.

3) Ebendaselbst 3, p. 255.

R. Lenz, Leben und Werke, p. 305.

5) Schriften von Lenz 3, p. 262.

ruft er aus: Wir wollen Freunde sein! Als Shakespeare sichtbar wird, schleicht Weisse zum Tempel hinaus. Sein ganzer Anhang folgt ihm. Jedermann drängt zu, Shakespeare zu sehen, Einige fallen auf ihr Angesicht. Die Franzosen gucken, einer nach dem anderen, nach ihm herüber, setzen sich aber gleich wieder mit einer verachtungsvollen Miene. Die teutschen Jungen machen es ihnen nach."1) Die Polemik Lenzen's gegen die Franzosen, insbesondere gegen Voltaire, geht mit seiner Begeisterung für Shakespeare Hand in Hand. In dem Aufsatze,,das Hochburger Schloss", sowie in den Anmerkungen über das Theater" äussert sich derselbe in Vergleichungen er stellt die Geistererscheinungen im Hamlet und in der Semiramis zusammen, wie schon Lessing gethan hatte; er vergleicht die Charakterentwickelung des Brutus im Cäsar Shakespeare's und Voltaire's. Bei der erhabenen, grossen Natur, wenn er auf den nackten Felsen des Hochburger Schlosses wandelt, fällt ihm König Lear ein: „,Welcher Gewaltige," ruft er aus,,,hat seinen Bogen höher gespannt, tödtenderes Geschoss darauf gelegt ?" Die historischen Dramen Shakespeare's nennt Lenz Charakterstücke, in denen,,in die Mumie des alten Helden, die der Biograph eingesalbt und specereit habe, der Poet seinen Geist hauchte." Den lebhaftesten Eindruck scheinen Shakespeare's Lustspiele auf Lenz gemacht zu haben, und seine begeisterte Stimmung wogt ungestüm in den Worten, mit welchen er in den Anmerkungen über das Theater seine Uebersetzung von Shakespeare's ,,Verlorener Liebesmühe“ einleitet.,,Wer noch Magen hat, und ich kann ihm mit einem bisher unübersetzten Volksstück Komödie von Shakespeare aufwarten. Seine Sprache ist die Sprache des kühnsten Genius, der Erd und Himmel aufwühlt, Ausdruck zu den ihm zuströmenden Gedanken zu finden. Mensch, in jedem Verhältniss gleich bewandert, gleich stark, schlug er ein Theater für's ganze menschliche Geschlecht auf, wo Jeder stehen, staunen, sich freuen, sich wiederfinden konnte, vom obersten bis zum untersten. Seine Könige und Königinnen schämen sich so wenig als der niedrigste Pöbel, warmes Blut im schlagenden Herzen zu fühlen, oder kitzelnder Galle in schalkhaftem Scherzen Luft zu machen, denn sie sind Menschen auch unter'm Reifrock, kennen keine Vapeurs, sterben nicht vor unseren Augen in müssig gehenden Formularen dahin, kennen den tödtenden Wohlstand nicht." 2)

1) Schriften von Lenz 3, p. 226. 2) Schriften von Lenz 2, p. 229.

In diesen aus den Schriften Lenzen's mitgetheilten Stellen haben wir den Ausdruck der stürmischen Liebe, mit welcher man in seinem Kreise Shakespeare's Dichtungen erhob; was Lessing in der Hamburgischen Dramaturgie über Voltaire und Corneille im Verhältniss zu Shakespeare mit Scharfsinn und Witz, mit vernichtender Energie und mit autonomer Liebe zu Shakespeare's noch ungekannter Grösse gesagt hatte, tönt in Lenzen's schwächeren Sätzen wieder, und die springende, himmelstürmende Sprache, in welcher Herder in seinem Aufsatze über Shakespeare seine Empfindungen und Anschauungen ausgeströmt hatte, wird von Lenz oft noch überboten. Aber diese stürmische Verehrung für Shakespeare bleibt noch kritiklos, und für die Grösse Shakespeare's als eines bewussten Compositionskünstlers fehlt ihr das Verständniss. Shakespeare's Personen kennen den tödtenden Wohlstand nicht," sagt er in den Anmerkungen über's Theater. Aus dieser Meinung scheint seine Vorliebe für Shakespeare's Lustspiel,,Verlorene Liebesmühe" zu stammen, welches er unter dem Titel ,,Amor vincit omnia" übersetzte. Nach Wieland's Vorgang übertrug er das Werk in Prosa, nur die Sonette und lyrischen Gedichte, in welchen der König und seine Genossen ihre Leidenschaft offenbaren, preisen oder entschuldigen, gab er metrisch wieder. Ist es schon eine grosse Entbehrung, dass wir in Lenzen's prosaischer Uebersetzung auf die grosse Eleganz der Versification verzichten müssen, durch welche so viele Stellen dieses Dramas bei Shakespeare wie Juwelen leuchten, so hat auch der Uebersetzer in seinen metrischen Uebertragungen die Feinheit nicht verstanden, mit welcher Shakespeare in den Sonetten und lyrischen Strophen die Personen charakterisirt, deren Empfindungen und Anschauungen ausgedrückt werden; Lenz verwischt vielmehr in den metrischen Uebersetzungen das Besondere und Individuelle. Desto mehr fühlte er sich von den Witzgefechten der Personen und von den Paradoxien der Clowns angezogen; die Absurditäten derselben, erzählt Goethe von dem Shakespearekreise in Strassburg, machten unsere Glückseligkeit und wir priesen Lenzen als einen Begünstigten, dass ihm das Epitaphium des von der Prinzessin geschossenen Hirsches so gut gelungen war.') Aus der Beschaffenheit dieser Uebersetzung mag man schliessen, in welcher Weise Shakespeare auf die eigenen Dramen dieses Dichters gewirkt hat. Zunächst stösst man in denselben auf Reminiscenzen aus Shakespeare, wie denn in dem „Hofmeister" das Liebespaar Fritz von Berg und „Augustchen“ Miene

1) Goethe's Werke (in 40 Bänden) 22, p. 58.

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machen, als Romeo und Julie sich zu geriren. Wenn in dem Drama ,,Der neue Menoza" der Graf ausruft: Der verdammte Kerl, wo er bleibt! wo er bleibt! wo er bleibt! Gleich wollt er zurück sein, wollt fliegen, wie Phaethon mit den Sonnenpferden,1) so ist in dem Vergleich dieselbe Rücksichtslosigkeit gegen die antike Sage von Phaethon bewiesen, wie es Julie thut in dem berühmten Monologe:,,Hinab, du flammenhufiges Gespann!" Der scharf geisselnde moralische Unwille Hamlet's gegen eine entartete Welt kehrt in den bitteren Worten des Prinzen in dem Drama,,Der neue Menoza" wieder.) In der Komödie,,Freunde machen den Philosophen" wird ein Drama im Drama aufgeführt, in welchem es sich um die Liebe des Sohnes zur Mutter handelt und Ninon Lenclos auftritt, wie im Hamlet der Mord Gonzago's oder im Sommernachtstraum Pyramus und Thisbe als Drama im Drama aufgeführt werden. — In der Composition seiner Dramen scheint sich Lenz eine Eigenthümlichkeit Shakespeare's besonders zum Muster genommen zu haben. Die Lustspiele des letztern verdanken ihre Tiefe und ihren Reichthum an entgegengesetzten Farben der Neigung des Dichters, die Sphäre der Heiterkeit mit tragischen Stimmungen zu unterbrechen, bestimmte Charaktere bis an die Grenze eines tragischen Geschickes zu führen und auf dem dunkeln Grunde des erschütterten Seelenlebens die Regenbogenfarben eines heiteren Ausgangs erscheinen zu lassen. Die Entwickelung der Geschicke eines Antonio im Kaufmann von Venedig, der Imogen und des Posthumus im Cymbeline, der Hero in Viel Lärmen um Nichts, der Hermione und des Leontes im Wintermährchen geben hiervon Zeugniss. So hat auch Lenz in seinen Komödien die tragischen Momente nicht gescheut; das Drama „Der Hofmeister" endet mit heiterem. Ausgange; obwohl ,,Augustchen" ein gefallenes Mädchen ist und Mutter eines Kindes von ihrem Hof

1) Schriften von Lenz 1, p. 141.

2) Schriften von Lenz 1, p. 102: Alles, was ihr zusammenstoppelt, bleibt auf der Oberfläche eures Verstandes, wird zu Lust, nicht zu Empfindung, ihr kennt das Wort nicht einmal; was ihr Empfindung nennt, ist verkleisterte Wollust; was ihr Tugend nennt, ist Schminke, womit ihr Brutalität bestreicht. Ihr seid wunderschöne Masken mit Lastern und Niederträchtigkeiten ausgestopft, wie ein Fuchsbalg mit Heu; Herz und Eingeweide sucht man vergeblich, die sind schon im zwölften Jahre zu allen Teufeln gegangen.

Hamlet 3, 1: Ich weiss auch von euren Malereien Bescheid, recht gut. Gott hat euch Ein Gesicht gegeben, und ihr macht auch ein anderes; ihr schlendert, ihr trippelt und ihr lispelt, und gebt Gottes Creaturen verhunzte Namen und stellt euch aus Leichtfertigkeit unwissend.

meister, so ist ihr Verlobter, wie Gervinus sagt,,,doch Philosoph genug, sie zu heirathen, Alles, damit es ein Lustspiel wird." Dem Lustspielausgange liess Lenz Scenen vorausgehen, durch welche er viele Herzen der Zeitgenossen erschütterte; und die Handlung ,,Augustchens", welche mit ihrem Kinde in einem Teiche den Tod suchen will, aber von ihrem Vater gerettet wird, erschien auch in unseren Tagen dem Biographen Lenzen's herzzerreissend und von einer nicht zu überbietenden Kraft und Wirkung.') So ist auch in anderen Stücken Lenz'ens, welche er ausdrücklich Komödien nennt, wie im Neuen Menoza, in den Dramen ,,Die Soldaten“ und „,Freunde machen den Philosophen" des Herzzerreissenden sehr viel; aber nicht die Häufung der verschiedenen Ingredienzien, sondern die feine Mischung machen den Künstler, und wenn Lenz in dieser Verbindung tragischer und heiterer Elemente dem Vorbilde Shakespeare's folgte, so hat er dasselbe in der Feinheit und Harmonie der Darstellung, in welcher die Mannichfaltigkeit der Situationen zu einer höheren idealen Einheit gestimmt wird, keineswegs erreicht. Vielmehr bleibt er mit Vorliebe an der Nachahmung der ,,Natur" haften; unter der Natur aber verstand er, wie er selbst ausspricht, 2) „die Dinge, die wir um uns herum sehen, hören et cetera, die durch die fünf Thore der Seele in dieselbe hineindringen und nach Maassgabe des Raumes stärkere oder schwächere Besatzung hineinlegen, die dann anfangen in dieser Stadt zu leben und zu weben, sich zu einander zu gesellen, unter gewisse Hauptangriffe zu stellen, oder auch zeitlebens ohne Anführer, Commando und Ordnung umherschwärmen.“

In diesem Sinne hatten, wie er meinte,3),,die Dichter vor und unter der Königin Elisabeth sich nicht entblödet, die Natur mutterfadennackt auszuziehen und dem keusch- und züchtigen Publicum darzustellen, wie sie Gott erschaffen hat." In dieser Auffassung der Natur lag Lenz'ens Ideal, und in der mutterfadennackten Natur glaubte er Shakespeare am meisten zu erreichen. Shakespeare hat das niedrige und gemeine Leben der Menschen mit antiker Unbefangenheit dargestellt, er steigt in die niedere Wirklichkeit zuweilen für unsern Geschmack zu tief hinab; es ist keine sittlich anziehende Gesellschaft, welche wir in dem Hause der Frau Hurtig in der Person der Doll Tearsheet und Falstaff's wahrnehmen; die Personen, welche der gemeinen Lebenssphäre in Maass für Maass angehören, erregen das gerechteste sittliche Bedenken; aber immer leuchten in

1) O. Gruppe, Reinhold Lenz, p. 265.

2) Anmerkungen über das Theater; Schriften 2, p. 204.
3) Anmerkungen über das Theater; Schriften 2, p. 203.

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