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Rev. Alexander Dyce.

Die Shakespeare-Gesellschaft hat eins ihrer ausgezeichnetsten Ehrenmitglieder verloren; nach einem langen, bis auf den letzten Augenblick der Literatur gewidmeten Leben starb Alexander Dyce am 19. Mai 1869. Als der Sohn des Generals Dyce (in der indischen Armee) war er am 30. Juni 1797 (oder 1798, denn wie gewöhnlich schwanken die Angaben) zu Edinburg geboren, wo er auch seine Erziehung genoss und die Universität besuchte. Dann studirte er Theologie zu Oxford, wurde 1819 ordinirt und darauf als Curat zu Llantiglos in Cornwall und später zu Nayland (in Suffolk) unweit Colchester angestellt. Im J. 1827 entsagte er jedoch dem geistlichen Amte und begab sich nach London, das er bis an seinen Tod nicht wieder verlassen hat. Hier entwickelte er nun eine unermüdliche und staunenswerthe Thätigkeit im Studium und in der Herausgabe der Elisabethanischen Literatur. Ihm werden die berühmten Ausgaben von George Peele, Robert Greene, John Webster, James Shirley, Beaumont und Fletcher, Christopher Marlowe, John Ford und endlich von Shakespeare verdankt. Die letztere erschien zuerst 1853-58 in sechs, und neu bearbeitet 1864-66 in acht Bänden. Alle diese Ausgaben zeichnen sich nicht allein durch ausserordentliche Sorgfalt, sondern durch besonnene und gediegene Kritik wie durch ausgebreitete Belesenheit aus. Dyce nimmt in der That als Kenner der Elisabethanischen Literatur wie als Textkritiker für immer einen hohen Rang ein. In der Kritik ging er, wie namentlich sein Shakespeare deutlich erkennen lässt, ursprünglich von conservativen Grundsätzen aus, ohne jedoch irgend einer Autorität, sei es Quarto oder Folio, blindlings zu folgen. Je tiefer er aber eindrang, desto mehr erhob er sich zu grösserer Freiheit, ohne wieder

andererseits in Leichtfertigkeit und Willkür zu verfallen. Gestützt auf seltenes Styl- und Sprachgefühl, auf ruhige Klarheit und umfangreiches Wissen wusste er überall die goldene Mitte zu halten, so dass sein Shakespeare-Text allseitig als der beste anerkannt wird, welcher bis jetzt geliefert worden ist. Seine Leistungen für die Biographie Shakespeare's, seine thätige Theilnahme an der englischen Shakespeare-, der Percy- und Camden - Gesellschaft, seine Abwehr der Collier'schen Emendationen sind jedem Shakespeare-Kenner bekannt und bedürfen keines weitern Lobes. Weniger bekannt sind seine ausgewählten Uebersetzungen aus Quintus Smyrnaeus, mit denen er seine literarische Laufbahn begann, seine 'Specimens of British Poetesses,' seine Ausgaben von William Collins und R. Bentley, seine 'Recollections of the Table-Talk of Samuel Rogers', mit dem ihn eine langjährige Freundschaft verband, u. a. So viel wir wissen war er nie verheirathet, und sein Leben war überhaupt, wie es bei solcher Thätigkeit nicht anders sein konnte, ganz das ruhige und ereignissleere eines Gelehrten.

Literarische Besprechungen.

Tò tí v siva. Die Idee Shakespeare's und deren Verwirklichung. Sonettenerklärung und Analyse des Dramas Hamlet (indirecter Beitrag zur Zeitfrage „Glauben und Wissen") von Carl Karpf. Hamburg, W. Maucke, 1869.

Dem seltsamen Titel entspricht der seltsame Inhalt dieses Buchs. Nach den Vorbemerkungen ist es der Zweck des Verfassers, durch seine Arbeit zur Erkenntniss der Art und Weise der schöpferischen Thätigkeit des Dichters beizutragen." Denn das volle Verständniss der Shakespeare'schen Dramen dürfte erst durch Ermittelung des ideellen Vorwurfs des Dichters bei den einzelnen Dramen erlangt werden, und für eine solche Ermittelung sei jene Erkenntniss besonders förderlich.“ Dieser Erklärung gegenüber erscheint es zunächst auffallend, dass der Verfasser um die Art und Weise der schöpferischen Thätigkeit Shakespeare's darzulegen, vorzugsweise an die Sonette sich hält, obwohl doch Shakespeare seinen Ruf und Ruhm nicht seinen wenigen lyrischen Gedichten, sondern seinen Dramen verdankt und obwohl seine schöpferische Thätigkeit fast ausschliesslich der dramatischen Dichtung gewidmet war. Das Räthsel löst sich, wenn auch nur durch ein neues Räthsel, das der Verfasser aufstellt. Er glaubt nämlich entdeckt zu haben, dass die sämmtlichen Sonette Shakespeare's auf die Art und Weise der schöpferischen Thätigkeit des Dichters sich beziehen, indem sie nicht an irgend eine fremde Persönlichkeit, sondern an den Genius des Dichters selbst und insbesondere an das eigentliche Wesen des Geistes, die,,Vernunftthätigkeit in ihrem An- und Fürsichsein, in welcher der Mensch Gemeinschaft mit dem göttlichen Wesen habe," gerichtet, zur Schilderung und Verherrlichung derselben geschrieben scien. Diesen Fund und die damit zusammenhängende Entdeckung der wahren Grundidee der Hamlet-Tragödie

der Welt mitzutheilen und ausführlich darzulegen, war das Motiv für den Verfasser zur Ausarbeitung und Veröffentlichung seiner Schrift.1)

Für die Richtigkeit seiner überraschenden Entdeckung bei der es nur räthselhaft bleibt, dass sie erst 260 Jahre nach dem ersten Erscheinen der Sonette gemacht worden, beruft sich der Verfasser auf den Umstand, dass der Name des nach der gewöhnlichen Meinung in den Sonetten besungenen jungen Mannes, obwohl ihm der Dichter mehrfach die Unsterblichkeit, die ihm seine Verse leihen würden, verspreche, gleichwohl nirgend genannt sei, ein auffallender Widerspruch, der nur durch seine (des Verfassers) Erklärung der Sonette sich löse (- der indess doch wohl auch seine Lösung fände, wenn man annähme, dass der Dichter ursprünglich beabsichtigt habe, die an den jungen Freund gerichteten Sonette zu veröffentlichen und ihm zu dediciren, davon aber später, vielleicht durch den Wunsch des jungen Freundes selber oder durch andere äussere Umstände, zurückgekommen oder abgehalten worden sci). Er macht ferner geltend, dass die Sonette 1-126 sich auf Eines und dasselbe Wesen beziehen, auf welches auch in den Schluss-Sonetten angespielt werde, dass nachdem in den ersten 17 Sonetten die „Erwerbung eines Sohnes und Erben verlangt," in keinem der folgenden 109 Sonette dieses Sohnes wieder gedacht werde, und endlich, dass man für die namenlose Inscription der Sonette bisher keine wahrscheinliche Deutung habe finden können (S. 34). Der Verfasser fühlt wohl, dass diese ,,Inscription" er meint die bekannte Dedication des Verlegers und Herausgebers der Sonette, Th. Thorpe seiner Auffassung derselben stark im Wege stehe, und zum unüberwindlichen Hinderniss werde, wenn sie in der bisher gewöhnlichen Weise verstanden wird. Er erklärt sie daher in seiner Weise, indem er den englischen Text: To the only begetter of these insuing Sonetts Mr. W. H. all happinesse and that eternitie promised by our ever-living poet wisheth the well-wishing adventurer in setting forth T. T., folgendermassen übersetzt: „Dem alleinigen Erzeuger dieser folgenden Sonette wünscht Mr. W. H. alle Glückseligkeit und die Ewigkeit, verhiessen von unserm unsterblichen Poeten. Der wohl wünschende Aventurier bei der Herausgabe T. T." Zur Erläuterung dieser seltsamen Dedication bemerkt er: Shakespeare habe einem Mr. W. H., dessen Name sehr gleichgültig sei, die Sammlung der Sonette übergeben, um über den Verlag zu contrahiren, dieser habe „das auf 'conceit' beruhende Liebes- und Freundschaftsverhältniss" zwischen dem Dichter und seinem eignen ,,als unabhängig gedachten Geist" gekannt, und habe darauf die monumentale Inscription verfasst, indem er, eingehend in des Dichters Intention, zwischen dem geistigen Wesen (Shakespeare's) als dem alleinigen Erzeuger der Sonette und dem Celebrator desselben, dem Sonettisten (Shakespeare) selber, unterschieden habe, aber auf Beide nur in der Vorstellung getrennte Theile Eines

1) Ich weiss nicht, ob es ihm entgangen ist, dass bereits vor ihm T. Barnstorff (,,Schlüssel zu Shakespeare's Sonetten," 1865) eine ganz ähnliche Entdeckung gemacht hat, die allerdings spurlos vorübergegangen und vielleicht deshalb von ihm nicht beachtet worden ist. Er erwähnt wenigstens dieses seines Vorgängers nirgend, und wir müssen daher wohl annehmen, dass er seinen Fund selbständig gethan hat.

Ganzen selbstverständlich die Unsterblichkeit bezogen habe (S. 43). Sehen wir ab von dem bedenklichen Umstande, dass schwerlich ein geborener Engländer die obige Uebersetzung billigen würde, weil nach englischer Construction das Zeitwort 'wisheth' nicht am Ende des Satzes, sondern zwischen W. H. und 'all happinesse' stehen müsste, so bleibt es doch immer noch sehr seltsam, dass der unbekannte Mr. W. H. dem als unabhängig gedachten Geiste des Dichters nicht nur alle Glückseligkeit, sondern auch die Ewigkeit wünscht, die ihm als dem alleinigen Erzeuger der Sonette vom Dichter der Sonette verheissen worden, dass also der wunderliche Mr. W. H. den Geist des Dichters und den Dichter selber wie zwei verschiedene Wesen behandelt, und obwohl er den Dichter als unsern „ewig lebenden" Poeten bezeichnet, ihm doch erst noch die „Ewigkeit" anwünscht, die er in den Sonetten sich selber verheissen hat. Wie der Mr. W. H. zu dieser sonderbaren Dedication gekommen sei, und was es zu bedeuten habe, dass ,,der wohlwünschende Aventurier bei der Herausgabe T. T." (der Verleger) seinen Namen in ebenso abrupter wie sonderbarer Form unter die Dedication gesetzt hat, wird uns mit keinem Worte erklärt. Der Verfasser findet selbst die Dedication absonderlich, aber er meint: „Die Absonderlichkeit und Conceitedness derselben finde ihre Erklärung durch die auf ,,conceit" beruhende Liebe, welche der Inhalt der Sonette sei."

Diese letztere Bemerkung lässt sich nur verstehen, wenn wir den ,,Inhalt der Sonette", wie der Verfasser ihn auffasst, etwas genauer in Betracht ziehen. Da er der Ueberzeugung ist, dass Shakespeare die philosophischen Systeme, die seiner Zeit in Geltung waren, insbesondere das Aristotelische nicht nur gründlich gekannt, sondern auch nach der Aristotelischen Begriffsbestimmung des Allgemeinen (der Idee) und seines Verhältnisses zum Einzelnen seine Dramen entworfen, gegliedert und ausgeführt habe, eine Ueberzeugung, die sich freilich nur auf seine eigne Auslegung der Sonette und resp. der Hamlet - Tragödie stützt, so beginnt er mit einer Darlegung der leitenden philosophischen Ideen von Sokrates bis auf Aristoteles, die er jedoch nicht aus den Quellen, sondern aus Biese's Darstellung der Philosophie des Aristoteles schöpft. (Biese ist Hegelianer und überträgt daher, wie die meisten Schüler seines Meisters zu thun pflegen, die Hegelschen Gedanken ohne Weiteres auf Aristoteles oder reducirt doch die Aristotelischen Sätze auf die Hegelschen Schlagwörter. Daher das Gerede von der „,absoluten Idee," die sich im Besondern und Einzelnen verwirkliche, von der Identität des Subjectiven und Objectiven, Ideellen und Reellen, von der Negation als dem bewegenden Principe für das Uebergehen des Ideellen in das Reelle etc.) Als Beweis, dass Sh. Aristoteliker gewesen und dass in ihm die Theorie von der Vernunftthätigkeit des Geistes in ihrem Anund Fürsichsein und von der Gemeinschaft des Menschen mit dem göttlichen Wesen, worin die Speculation des Aristoteles gipfele, ihren ewigen unvergänglichen Triumph gefeiert habe, führt der Verfasser vor Allem das 108. Sonett an. Hier nämlich erkläre der Dichter:

like prayers divine

I must each day say o'er the very same,

Jahrbuch V.

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