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statt in dem Thun und Schicksal einer Person zu suchen. Der Gegenstand eines wahren Dramas ist stets ein Menschenschicksal, nicht ein abstracter Gedanke. Auch ein historisches Schauspiel, sofern es ein ächtes Schauspiel ist, geht stets auf die Veranschaulichung eines Charakters und des in ihm begründeten Geschicks, nicht auf den Nachweis eines historischen Gesetzes aus, mag dieses auch noch so leicht sich daraus ableiten lassen; eine Tragödie ist kein Lehrgedicht. Wie ganz anders hätte Shakespeare sein Werk organisiren müssen, wenn es ihm um die Veranschaulichung des Satzes zu thun gewesen wäre: Kein Mensch darf ungestraft mit der Weltgeschichte experimentiren! Wie ganz andere Worte hätte er dann dem sterbenden Brutus leihen müssen! Wo zeigt denn dieser das geringste Bewusstsein davon, dass er sich durch einen willkürlichen Eingriff in den Gang der Geschichte versündigt habe?

Aber wo bleibt, wird man einwenden, bei einer solchen Anschauung von der Grundaufgabe unseres Dramas, bei der hier entwickelten Auffassung von dem Charakter des Brutus, von seiner That und ihrer psychologischen Motivirung die tragische Schuld und Sühne? Handelt Brutus in vollster, bester Ueberzeugung von der Pflichtmässigkeit seiner That, wird er sich niemals einer Schuld, höchstens eines Irrthums bewusst, einer Verkennung der Zeit, worin er lebte, der Mittel, worüber er gebot, der Menschen, für die er eintrat: haben wir dann hier nicht, was Jean Paul in der Tragödie nicht dulden wollte, das empörende Schauspiel eines Gottes in der Hölle?" Wo bleibt des Aristoteles pagría, für welche der Held der Tragödie büssen soll? Ich heisse diese Einwendung willkommen, weil sie Gelegenheit bietet, einen Cardinalpunkt in der Theorie der Tragödie, worüber nach meiner Ucberzeugung eine irrthümliche Ansicht herrscht, wenn auch nicht gebührend zu erörtern, doch wenigstens zu berühren. Ulrici, Gervinus, Kreyssig, wie allgemein die Commentatoren Shakespeare's, betrachten den Untergang der tragischen Personen unseres Dichters als eine Folge und Büssung einer Schuld. Nach Ulrici geht der tragische Held zu Grunde, weil er entweder, das objectiv Schöne und Gute mit seinem subjectiven Selbst verwechselnd, nur nach Selbstbefriedigung in seinen wenn auch grossen und edeln Leidenschaften trachtet, oder einseitig in ein einzelnes Gut und Recht seine ganze Lebenskraft legt, alle übrigen hintansetzt, und so der sittlichen Nothwendigkeit Hohn spricht, die das Ganze höher zu achten fordert, als das Einzelne. Gervinus nennt ausdrücklich die tragische Dichtung Shakespeare's, wie überhaupt die tragische Poesie, eine Darstellung der Abweichung

Jahrbuch V.

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vom Guten und Schönen; und Kreyssig sagt: „Shakespeare's tragische Helden entfernen sich positiv, seine komischen negativ von dem Normalzustande der gesunden Natur. Durch die Vernichtung des Schuldigen und derer, die seinem Wirkungskreise nahe kommen, rächt die Natur ihr verletztes Gesetz." Folgerecht müssen die genannten Interpreten auch in Brutus Thun und Streben eine Schuld aufsuchen. Brutus verdient nach Ulrici,,doppelte Strafe" für den Hochmuth, dass er in die Geschichte einzugreifen wagt, das Unhaltbare zu halten, die Republik auf seine Schultern zu nehmen sucht. Gervinus rechnet ihm besonders sein übereiltes Vorgehen gegen den noch nicht schuldig gewordenen Cäsar und das geheime Mitspielen von Popularitätssucht unter den Motiven der That an. Kreyssig findet sein Vergehen darin, dass er es verschmäht, die Resultate seines abstrakten Denkens an den berichtigenden Maassstab der Thatsachen zu legen, dass bei ihm ideale Speculation statt des in Gefühl und Erfahrung begründeten Rechtsbewusstseins die Entscheidung übernimmt. Nach solcher Ansicht stellt sich der Untergang des tragischen Helden als ein Akt der Nemesis, als ein Akt der Gerechtigkeit dar, den die über Aufrechthaltung der sittlichen Weltordnung wachende Macht übt. Wenn man einen solchen Akt der Gerechtigkeit in der Tragödie für unerlässlich erklärt, wird man dann weiter auch im Ernste behaupten, dass regelmässig in den anerkannt vortrefflichsten Dichtungen dieser Art wahre, volle Gerechtigkeit geübt wird? Dass die Strafe auch dem Grade nach der Schuld angemessen ist? Wird man läugnen können, dass in die Strafe auch Unschuldige mit hineingezogen werden? Und ist das der Idee der Gerechtigkeit gemäss, dass in der Regel das Böse und Schlechte siegreich aus dem Conflict hervorgeht? Gewiss sagt Th. Schur in einer lesenswerthen Programmabhandlung (Realschule zu Hagen, 1869) mit Recht: ,,Es ist ein vergebliches Bemühen, überall ein dem Untergange des tragischen Helden entsprechendes Vergehen aufzufinden, oder wo ein solches mühsam nachgewiesen wird, da ist die Belohnung so wohlgemeinter Arbeit, dass der Dichtung der edle Inhalt und damit der poetische Zauber genommen wird," welches Letztere ganz besonders von dem uns beschäftigenden Drama gilt. Es dürfte daher wohl anzuempfehlen sein, die herkömmliche Theorie von der tragischen Schuld und Sühne einer gründlichen Revision zu unterziehen. Zum Versuch einer solchen ist hier nicht der Platz; ich muss es bei einer kurzen Andeutung bewenden lassen.

Das ernste Drama stellt einen kräftig strebenden Charakter entweder im Conflict mit der Aussenwelt oder in einem innern Conflict dar, und zwar in der Absicht, durch diesen Kampf die gewaltigen Kräfte, die in der Menschenseele liegen, die edeln, herzgewinnenden, bewunderungswürdigen, wie die Schrecken und Schauer erregenden zur Anschauung zu bringen, und uns durch diese Anschauung einen erhebenden und kräftigenden Genuss zu bereiten. Erliegt der Held in diesem Kampfe, so ist das ernste Drama eine Tragödie. Hier tritt sogleich die Frage nahe, woher es kommt, dass weitaus die meisten ernsten Dramen Tragödien sind. Warum lässt nicht vielmehr der Dichter den Helden in der Regel als Sieger aus dem Kampf hervorgehen? Scheint dies doch das ästhetische Lustgefühl des für den Helden interessirten Zuschauers zu erhöhen. Die Antwort ist: weil der volle Heldenmuth sich erst offenbart, wenn für die Idee das Leben eingesetzt wird, weil erst der Tod das verklärende Siegel auf das Leben des Helden drückt. Unausbleiblich mischt sich in den Genuss des Anblicks eines für eine edle Sache kämpfenden und fallenden Helden Furcht und schmerzliches Mitgefühl; aber das Herbe dieser Gefühle wird überreichlich aufgewogen durch die Süssigkeit der Liebe, die, um mit Shakespeare zu reden, sich mit dem Mitleid in's Herz stiehlt, durch den Hochgenuss, den uns die Anschauung der Kraft im todesmuthig ringenden Helden bereitet, durch die Begeisterung für seine Idee, in die er uns mit hineinreisst, durch das Innewerden einer gleichen Kraft in unserer eigenen Brust; und darin liegt die beste Reinigung der Affecte Furcht und Mitleid, die Aristoteles der Tragödie zur Pflicht macht. Fasst man so die Tragödie und ihre Wirkungsart auf, so erledigt sich auch der alte Streit über die Zulässigkeit rein guter Charaktere im Trauerspiel. Zulässig sind sie allerdings, sogar sehr wünschenswerth; aber höchst selten werden wir ihnen begegnen, weil die Darstellung eines sittlichen Ideals eben so schwer wie dessen Conception ist, und, wenn sie gelingen soll, eine poetische Kraft ersten Ranges verlangt. Der Gipfel der Sittlichkeit," sagt Jean Paul, „und der Gipfel der Dichtkunst verlieren sich in Eine Himmelshöhe, und nur der höhere Dichter - Genius kann das Herzens - Ideal erschaffen." Meistens, ja in der Regel werden wir daher die Helden der Tragödie sich in eine Schuld verstricken und dafür büssen sehen. Aber wo ausnahmsweise, wie im Julius Cäsar, einer genialen Dichterkraft die energische Darstellung eines sittlichen Ideals gelungen ist, da soll man nicht der hergebrachten Lehre von der tragischen Schuld und Sühne zu Liebe sich ängstlich nach Vergehen

des Helden umsehen, um der Idee der poetischen Gerechtigkeit genug zu thun und den Anblick seines Geschicks dem Zuschauer erträglich zu machen. Die Tragödie appellirt nicht an unser Gerechtigkeitsgefühl, sondern an das Gefühl unserer absoluten sittlichen Independenz, an das Bewusstsein einer Kraft in unserm Busen, die allen Schicksalsschlägen, auch dem Tode siegreich Trotz bietet, einer Kraft, die den Menschen innerlich triumphiren lassen kann, auch wenn er physisch untergeht; und eben darum, weil sie sich an das Edelste und Höchste im Menschen wendet, ist die Tragödie die edelste und höchste aller dramatischen Gattungen, ja aller Dichtungsarten. Der Anblick eines Heldenmuthes, der entschlossen. allen Gefahren entgegengeht, wenn ihm gleich der Tod daraus entgegendroht, der Anblick einer Liebe, die in den Opfern, die sie bringt, selbst in dem Opfer des Lebens ihren Lohn findet, ist für den Zuschauer, wie ihn die Tragödie verlangt, nicht etwas Unerträgliches. Tragische Helden, die so handeln, können in Folge des Adels ihrer Natur nicht, anders handeln; und aus einem Handeln dieser Art kann keine Schuld entspringen. Ihre Unschuld ist (möchte ich ein Wort Vischer's umkehrend sagen) ihre Schuld, und ihr Untergang keine Busse, sondern eine Verklärung. Solch eine tragische Gestalt ist auch Shakespeare's Brutus. Man hat ihm Nichtrücksichtnahme auf die damalige Gesinnungslosigkeit der römischen Bürger, unpolitische Schonung der Gegner, moralischen Rigorismus gegen die Parteigenossen und Anderes als Schuld angerechnet. Das sind Irrthümer, Missgriffe, die aus seiner edlen Natur entspringen und den Adel seines Wesens erst recht an's Licht stellen. Will man sie durchaus zur Schuld stempeln, so entgegne ich, ein Wort Hegel's über die grossen tragischen Charaktere auf Brutus anwendend: Seine Schuld ist zugleich seine Ehre.

Ueber das Dunkel in der Hamlet-Tragödie.

Von

H. A. Werner.

Hamlet ist die Tragödie der Dämmerungen. Sie beginnt bei

Nachtzeit, mit Geisterspuk und Grausen. Sie entwickelt sich unter einem nordischen, wolkenschweren Himmel. Nebelhaft sind alle Gestalten darin. In Dunkel und Unbestimmtheit hüllen sich die Thaten und Zustände, die ihr vorausgehen und folgen. Verworren und unklar bleiben durchaus die geistigen und sittlichen Zustände der handelnden Personen, sie stehen auf einem so unsichern Boden, dass zwischen Tugend und Laster, Weisheit und Wahnsinn, Kraft und Feigheit, Wahrheit und Lüge nicht zu scheiden ist. Diese ganze, vom Dichter in unendlicher Breite angelegte, und mit wunderbarer Fülle und unerschöpflichem Reichthum der Einzelheiten ausgemalte Welt ist düster, schattenhaft, verschwommen, wie ein nordischer Novembertag ein dunkles, grauenhaftes Chaos, in welchem es fast unmöglich scheint, sich zurechtzufinden. Sie ist ein thatsächliches Räthsel.

Das Räthselhafte aber bildet die mächtige Anziehungskraft der Dichtung, welche der stete Gegenstand der Forschung und Erwägung, der Bewunderung und der Deutungen geblieben ist seit einem Jahrhundert. Und jedem neuen Forscher will es scheinen, als hätten seine Vorgänger das Wort der Lösung vergeblich gesucht, und ihm sei es vorbehalten, es zu offenbaren.

Die Weltliteratur weist zwei Beispiele derselben inneren Beschaffenheit und desselben äusseren Schicksals auf.

In einer Zeit, als die Griechen, zur nationalen Manneskraft herangereift, die kindlichen Ideale der naiven Götterwelt abstreiften,

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