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II. Kapitel.

Die Quellen.

Ausführlicher habe ich über diesen Punkt bereits in den 'Neueren Sprachen' (Band IX, Heft 4, p. 193 ff.) gehandelt. Ich werde mich deshalb hier auf eine Übersicht beschränken. Ich kann dies um so eher tun, als ich in den Anmerkungen bei den einzelnen Stellen stets auf die Quellen verwiesen habe.

Die eigentliche Fabel wurde Longfellow von H. L. Conolly erzählt; letzterer hatte dieselbe von einem französischen Akadier gehört. Über die Akadier, ihre Wohnplätze und Expatriierung informierte sich Longfellow aus Th. Haliburton, 'An Historical and Statistical Account of Nova Scotia' (1829). Doch verflocht er mit den Schilderungen Haliburtons manches, was er bei früheren Reisen in Frankreich über die Tracht, die Bauart und andere Eigentümlichkeiten der Normannen beobachtet hatte. Es ist fraglich, ob der Dichter das Tagebuch Winslows, unter dessen Befehlen die Gefangennahme und Einschiffung der Einwohner von Grand-Pré stattfand, zu Rate gezogen hat. Dieses Tagebuch war damals noch nicht gedruckt, ihm aber zweifelsohne in den Räumen der Massachusetts Historical Society zugänglich.

Für die Schilderungen des Mississippiufers benutzte Longfellow Darbys 'Geographical Description of Louisiana' (1816). Außerdem aber hatte er, wie wir sahen, damals, als er diese Schilderungen zu entwerfen sich anschickte, Gelegenheit, ein Diorama des Mississippi zu sehen, welches seine Phantasie in der lebhaftesten Weise anregte.

Longfellow kam dem Interesse seiner Zeit außerordentlich entgegen, als er mit v. 1078 den Schauplatz seiner Dichtung in den großen Westen verlegte. Eine reiche Fülle von Reisebeschreibungen standen ihm hier für seine Angaben zur Verfügung. Außer Coopers mannigfachen Romanen, die ihm sicher nicht unbekannt waren, kommen hier in erster

Linie in Betracht: Schoolcrafts 'Oneóta or Characteristics of the Red Race of America' (1845) und Geo. Catlins bekanntes Werk über die Indianer (1841). Fast noch nützlicher erwies sich ihm Washington Irving, ‘Adventures of Captain Bonneville' (1837). Nicht allein fand er hier die glänzendsten Beschreibungen der Rocky Mountains und der Wind River Mountains als des Quellgebiets zahlloser Ströme, auch über die Prairien und ihre ungezähmten Bewohner, über Leben und Treiben der Trappers und über die Missionsstationen und das freundliche Entgegenkommen, das sie den Trappers und anderen Gästen beweisen, konnte er sich hier auf das Genaueste unterrichten. Ja, auch für die Beschreibung seiner Mississippifahrt ist Irvings Werk sicher nicht ohne Einfluß geblieben. Die Bootfahrt des Kapitäns Wyeth von den Stromschnellen des Bighorn bis zum Cantonment Leavenworth erinnert zu deutlich an die Bootfahrt unseres Gedichtes.

Um sich über die historischen Verhältnisse der Quäkerstadt, die er 1826 aus eigener Anschauung kennen gelernt, zu orientieren, griff Longfellow zu Watsons 'Annals of Philadelphia' (1830) und den 'Historical Collections of Pennsylvania' (1843).

Neben diesen Werken, die dem Dichter gewissermaßen das Rohmaterial zu seiner Arbeit lieferten, zeigt sich bei Einzelheiten hin und wieder auch der Einfluß anderer Schriften. Was von dem Steine im Neste der Schwalbe und andern Dingen aus dem Gebiet der Folk-lore berichtet wird, geht auf folgende Quelle zurück: Thomas Wright, 'Essays on Subjects connected with the Literature, Popular Superstitions, and History of England in the Middle Ages' (1846). Die von dem Notar in v. 306 ff. zum besten gegebene Erzählung ist eine alte florentinische Geschichte, die Rossini in seiner Oper 'La Gazza Ladra' behandelt hat.

Die in v. 413 genannten Lieder: "Tous les Bourgeois de Chartres' und 'Le Carillon de Dunkerque', sowie das in V. 547 genannte 'Sacred heart of the Saviour' fand er in dem Buche: 'Recueil de Cantiques à l'usage des Missions' (1833).

Übrigens bin ich jetzt geneigt anzunehmen, daß, wenn Longfellow seine Heldin auf ihrer Wanderung durch den Westen auf einer Missionsstation Unterkunft finden läßt, dies

durch die Lektüre von Chateaubriands 'Atala' veranlaßt ist. Mir scheint dies um so wahrscheinlicher, als manche der Schilderungen unseres Dichters auffällig an diejenigen des französischen Wortmalers erinnern. Auch berühren sich die tröstenden Worte des Missionspriesters auffällig mit einigen Reden des Paters Aubry. Das schließt nicht aus, daß Longfellow auch den Aufsatz gelesen hat, den W. B. Peabody im Mai 1844 in "The Democratic Review' über die frühere Missionstätigkeit der Jesuiten in den Gebieten des Nordwestens veröffentlichte.

Überhaupt ist es erstaunlich, welch eine große Anzahl von Büchern Longfellow beim Aufbau seines Gedichtes geholfen. Und dabei handelt es sich nicht bloß um gelegentliche Entlehnungen! Die Anmerkungen zeigen hoffentlich klar genug, wieviel den einzelnen Quellen, beispielsweise Haliburton, Schoolcraft oder Bonneville, entlehnt ist. Man hat sich häufig darüber gewundert, wie Longfellow jene Gefilde, die er nie mit eigenen Augen gesehen, so meisterhaft zu schildern vermocht hat. Dieses Wunder wird uns begreiflich, wenn wir in eine eingehende Lektüre seiner Quellen eintreten. Dabei erkennen wir auch, daß er in diesen Quellen nicht bloß das Material seiner Schilderungen vorfand, sondern auch die farbenreiche Stimmung, in welche dieselben getaucht erscheinen. Das gilt zunächst von Schoolcraft. Man mag sonst über diesen Vielschreiber denken wie man will: er hatte ein Herz für die Schönheiten der Natur, deren Erforschung er zum großen Teil sein Leben widmete und fand häufig genug die rechten Worte, um seinen Empfindungen wirksamen Ausdruck zu verleihen. Auch in Darby und namentlich in Bonneville fehlt es nicht an Stellen, die mehr als bloße Beschreibung, die wirkliche Poesie enthalten. Kein empfänglicher Leser wird Kapitän Bonnevilles Abenteuer in die Hand nehmen, ohne von der eindrucksvollen Kraft ergriffen zu werden, mit der er die Szenerie des großen Westens vor unser Auge stellt.

Gewiß ist durch eine solch eingehende Betrachtung der Quellen dem eigentlichen tiefen Verständnis einer Dichtung noch wenig gedient. An und für sich ist der Umstand völlig belanglos, daß ein Dichter diese und jene Bücher gelesen und für seine Dichtung verwertet hat. Näher seinem in

nersten Wesen bringt uns schon die Frage, welcher Art denn die Eindrücke sind, die in seiner empfänglichen Seele haften geblieben und ihm erneuter Darstellung wert erschienen. Vor allen Dingen aber kommt es darauf an zu erkennen, wie der Dichter so viele heterogene Bestandteile in das einheitliche Gewebe seiner Dichtung hat verflechten können, wie all die verschiedenen Strahlen durch die Einheit seiner Stimmung gleichsam in einem Brennpunkt vereinigt sind *).

Daß Longfellow die Fabel seiner Dichtung von Conolly erzählt erhielt, ist weniger von Bedeutung als der Umstand, daß gerade diese Geschichte Eindruck auf ihn machte und ihn zu poetischer Produktion antrieb.

Longfellow ist eine einfache, harmonische Natur ohne die Kompliziertheit und Zerrissenheit der modernen Menschen. Der ursprüngliche Mensch in der Einheit und Ganzheit seines Empfindens ist darum in erster Linie Gegenstand seiner Muse. Die Geschichte Conollys, die den Autor des 'Scarlet Letter' kalt ließ, regte ihn gerade um ihrer rührenden Einfachheit willen an.

Auch in der Natur sucht Longfellow das Stille, Friedliche. Die glücklichen Gefilde ländlichen Fleißes, die verschleiernde Dämmerung, die mondscheinverklärte Waldesnacht, oder die sehnsuchtweckende weite Öde: das sind seine liebsten Bilder. Wo ihm seine geographischen und ethnographischen Quellen Beschreibungen dieser Art boten, hat er sie für seine Darstellung verwertet. Er suchte in der Natur eben das, was mit den Stimmungen seiner Muse im Einklang war.

*) Vgl. Tagebucheintrag vom 15. Dezember: 'Of materials for this [second] part there is superabundance. The difficulty is to select, and give unity to variety.'

III. Kapitel.

Die historische Grundlage.

Die historische Tatsache, welche unserm Gedicht zugrunde liegt, ist die Expatriierung der in Nova Scotia wohnenden französischen Kolonisten. Auch über dies Ereignis habe ich in den 'Neueren Sprachen' (Bd. IX, Heft 4, p. 271 ff.) bereits ausführlich gehandelt, so daß ich mich hier ganz kurz fassen kann.

Longfellow ist im ganzen der historischen Wahrheit treu geblieben. Nur der Umstand könnte zu Tadel Anlaß geben, daß er die Gründe, welche die englischen Gewalthaber zu einer solch unerhörten Maßregel trieb, ganz mit Stillschweigen übergeht. Über diese Gründe sind wir jetzt vollkommen unterrichtet, seitdem sich das Nova Scotia Government dazu verstanden hat, die Dokumente, welche die Expatriierung der Akadier betreffen, zu veröffentlichen. Aus diesen Dokumenten geht hervor, daß die englischen Behörden die Deportation der Akadier als eine politische Notwendigkeit betrachteten. Der Widerstand, welchen die Kolonisten als gute Katholiken und Franzosen gegen die Engländer unausgesetzt an den Tag legten, war auf keine andere Weise zu überwinden.

Frühere französische Darstellungen des Ereignisses werden dem letztern Umstande zu wenig gerecht und gelangen deshalb zu keiner unbefangenen Beurteilung der Sachlage. Moreau ('Histoire de l'Acadie françoise de 1598--1755') bezeichnet die Expatriierung als ein 'forfait abominable'.

Von den mannigfachen englischen bezw. amerikanischen Darstellungen, die nach der Veröffentlichung der Nova Scotia Dokumente erschienen sind, nenne ich als besonders vertrauenswürdig die folgenden:

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